Veröffentlicht am Mai 15, 2024

Entgegen dem hartnäckigen Vorurteil von süßem und billigem Wein hat der deutsche Weinbau einen fundamentalen Strukturwandel vollzogen, der ihn zurück an die Weltspitze katapultiert hat.

  • Die Konzentration auf das Terroir und trockene Weine hat die Fokussierung auf reines Mostgewicht abgelöst.
  • Eine neue, vernetzte Winzergeneration hat historische Lagen mit modernster Präzision wiederbelebt, statt alte Traditionen zu brechen.

Empfehlung: Erkunden Sie die Vielfalt der „Großen Gewächse“ (GG) des VDP, um die trockene, herkunftsgeprägte Spitze des modernen deutschen Rieslings und Spätburgunders kennenzulernen.

Erinnern Sie sich an die 1980er Jahre? An Supermarktregale, gefüllt mit bocksbeutelförmigen Flaschen und blauen Etiketten, die einen süßlichen, oft undifferenzierten Weingenuss versprachen? Für viele Kenner älterer Jahrgänge ist das Image des deutschen Weins untrennbar mit dem Begriff „Liebfraumilch“ verbunden – ein Synonym für Massenware, die den einst glorreichen Ruf deutscher Gewächse überschattete. Dieses Bild ist so hartnäckig wie ein Rotweinfleck auf einem weißen Tischtuch. Doch es beschreibt eine längst vergangene Ära.

Die landläufige Erklärung für die heutige Renaissance lautet oft schlicht: „Eine neue Generation von Winzern macht alles besser.“ Das ist zwar nicht falsch, greift aber zu kurz. Es erklärt nicht die Tiefe und Nachhaltigkeit der Veränderung. Die Wiedergeburt des deutschen Weins ist kein kurzlebiger Trend, sondern das Resultat eines tiefgreifenden Strukturwandels, einer bewussten Abkehr von den Irrwegen des 20. Jahrhunderts und einer Rückbesinnung auf eine Stärke, die über Jahrhunderte gewachsen ist: der einzigartige Ausdruck seiner Lagen, der Terroir-Gedanke.

Dieser Artikel ist eine Reise für den anspruchsvollen Genießer, der bereit ist, alte Vorurteile über Bord zu werfen. Wir werden nicht nur die Oberfläche des Wandels betrachten, sondern die Mechanismen dahinter aufdecken. Wir blicken zurück in die goldene Ära um 1900, als deutscher Riesling teurer war als die edelsten Bordeaux, analysieren den Sündenfall der Nachkriegszeit und zeigen, wie eine konzertierte Anstrengung aus Politik, Verbandsarbeit und Generationswechsel das Ruder herumgerissen hat. Es ist die Geschichte einer Wiederentdeckung, die beweist, dass wahre Qualität nicht neu erfunden, sondern neu interpretiert werden muss.

Um diesen beeindruckenden Wandel in seiner Gänze zu verstehen, beleuchten wir die entscheidenden Faktoren, die dem deutschen Wein zu neuem Glanz verholfen haben. Der folgende Überblick führt Sie durch die Revolution in den Weinbergen, die wirtschaftlichen Mechanismen des Spitzenmarktes und die historischen Wurzeln, die heute wieder Früchte tragen.

Wie junge Winzer alte Traditionen revolutionieren ohne das Erbe zu verraten

Die Wiedergeburt des deutschen Weins wird oft einer „jungen, wilden“ Generation zugeschrieben. Doch diese Beschreibung verfehlt den Kern. Es handelt sich weniger um eine Rebellion gegen die Väter als vielmehr um einen neuen Generationenvertrag. Die heutigen Spitzenwinzer, viele davon in ihren 30ern und 40ern, brechen nicht radikal mit der Vergangenheit. Stattdessen verbinden sie das überlieferte Wissen über die besten Parzellen mit internationaler Erfahrung und einer kompromisslosen Hinwendung zur Qualität im Weinberg. Sie haben verstanden, dass große Weine nicht im Keller, sondern in der Rebe entstehen.

Ein Paradebeispiel für diesen neuen Geist ist die rheinhessische Winzervereinigung „Message in a bottle“. Gegründet, um dem angestaubten Image der Region entgegenzuwirken, wurde sie zur Keimzelle einer landesweiten Bewegung. Mitglieder wie Klaus-Peter Keller oder Jochen Dreissigacker sind heute Ikonen, die den Wert von Zusammenarbeit und offenem Austausch predigen. Stefan Winter, der 1. Vorsitzende des Vereins, bringt es auf den Punkt:

Wir profitieren unheimlich vom offenen Austausch bei Message in a bottle.

– Stefan Winter, 1. Vorsitzender Message in a bottle e.V.

Diese kollaborative Kultur, gepaart mit rigoroser Handarbeit, Mengenreduktion und einem Fokus auf gesunde Böden, ist das wahre Geheimnis der Revolution. Die enorme öffentliche Resonanz, die sich in Umfragen wie der von Falstaff zeigt, bei der für die beliebtesten Jungwinzer fast 10.000 Stimmen im Jahr 2024 abgegeben wurden, belegt, dass dieser Wandel nicht nur von Kritikern, sondern auch vom Markt getragen wird. Es ist die Synthese aus Respekt vor dem Erbe und dem Mut zur Präzision.

Gemischter Satz vs. Reinsortigkeit: Welcher historische Anbaustil liegt wieder im Trend?

Während der Fokus lange auf reinsortigen Weinen, allen voran dem Riesling, lag, erlebt eine fast vergessene Anbaumethode eine Renaissance: der Gemischte Satz. Bei diesem historischen Konzept werden verschiedene Rebsorten nicht getrennt, sondern bunt gemischt in einem einzigen Weinberg gepflanzt und zum selben Zeitpunkt gemeinsam gelesen und vinifiziert. Was früher eine Risikostrategie gegen Ernteausfälle war, erweist sich heute im Zeichen des Klimawandels als genialer Schachzug.

Der Gemischte Satz schafft eine natürliche Balance. Früh reifende Sorten bringen Frucht und Alkohol, während spät reifende Sorten für Säure und Frische sorgen. Das Ergebnis sind Weine von hoher Komplexität, die das Terroir des Weinbergs als Ganzes abbilden, anstatt den Charakter einer einzelnen Sorte zu isolieren. Diese Methode fördert die Biodiversität und puffert die Extreme des Wetters ab. Der Wiener Winzer Rainer Christ, ein Pionier dieser Methode, erklärt den Vorteil für die Klimawandelanpassung so: „Beim Gemischten Satz kann ich neue Rebsorten pflanzen, die vielleicht später oder früher reifen, ohne die Spezifik des Weins zu verändern.“

Nahaufnahme verschiedenfarbiger Trauben im selben Weinberg als Symbol für Gemischten Satz

Gleichzeitig zeigt sich der Klimawandel auch in der zunehmenden Vielfalt im reinsortigen Anbau. Lange als zu kühl geltend, bietet Deutschland heute ideale Bedingungen für internationale Sorten. Daten des Statistischen Bundesamtes belegen diesen dramatischen Wandel: Zwischen 2012 und 2022 wuchs die Anbaufläche von Sauvignon Blanc um 162% und die von Chardonnay um 83%. Dieser Trend zur Diversifizierung, sei es durch den Gemischten Satz oder neue Rebsorten, ist ein klares Zeichen dafür, dass die deutsche Weinwelt flexibler, mutiger und widerstandsfähiger geworden ist.

Die Süßwein-Falle: Welchen Fehler der 1970er Jahre die heutige Weinpolitik vermeidet

Um die heutige Qualitätsoffensive zu verstehen, muss man den Sündenfall der 1970er Jahre kennen. Das deutsche Weingesetz von 1971 war gut gemeint, aber in seiner Wirkung verheerend. Es stellte das Mostgewicht – also den Zuckergehalt der Trauben bei der Lese – als primäres Qualitätskriterium in den Vordergrund. Die fatale Logik: Je süßer die Traube, desto höher das Prädikat und desto besser der Wein. Dies führte zur Entstehung von Marken wie „Liebfraumilch“, einem halbsüßen Qualitätswein, der den Weltmarkt überschwemmte und das Image des deutschen Weins als „sweet and cheap“ zementierte.

Fallstudie: Vom Imageschaden zur Qualitätsoffensive

Die „Liebfraumilch“-Ära machte deutschen Wein in internationalen Supermärkten zum Synonym für anspruchslose Süße. Die Fokussierung auf hohe Erträge und Zuckergrade degradierte Lagencharakter zur Nebensache. Erst mit der Jahrtausendwende leitete eine neue Generation einen fundamentalen Struktur- und Kulturwandel ein. Man erkannte, dass nicht die Süße, sondern die Herkunft und die Balance einen großen Wein ausmachen. Heute, nach über zwanzig Jahren konsequenter Arbeit, finden sich trockene deutsche Rieslinge wieder auf den Karten der renommiertesten Restaurants von London bis New York – eine direkte Korrektur des Fehlers der 1970er Jahre.

Die heutige Weinpolitik und vor allem die strengen Statuten führender Vereinigungen wie dem Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) haben diesen Fehler korrigiert. Der Fokus liegt nun eindeutig auf der Herkunft. Die besten trockenen Weine aus klassifizierten Spitzenlagen tragen die Bezeichnung „Großes Gewächs“ (GG) und sind das trockene Pendant zu den edelsüßen Spitzen. Damit wird eine klare Unterscheidung getroffen: Es gibt die billige, undifferenzierte Süße der Vergangenheit und die hochkomplexen, raren und teuren Edelsüßweine der Gegenwart. Diese Differenzierung war der Schlüssel zur Rückeroberung der Glaubwürdigkeit bei Kennern.

Wie Sie an den berühmten VDP-Versteigerungen teilnehmen und Raritäten ergattern

Nichts demonstriert den wiedergewonnenen Status deutscher Spitzenweine so eindrücklich wie die VDP-Prädikatsweinversteigerungen. Diese finden jährlich in den Regionen Mosel (Trier), Rheingau (Kloster Eberbach) und Nahe (Bad Kreuznach) statt und sind die Bühne für die seltensten und begehrtesten Weine des Landes. Hier kommen keine regulären Weine unter den Hammer, sondern exklusive Fuder- oder Fasspartien, die speziell für diesen Anlass selektiert wurden. Die erzielten Preise sind ein Gradmesser für das internationale Ansehen und erreichen regelmäßig astronomische Höhen. So belief sich allein der Gesamtnettoerlös der Versteigerungen im Jahr 2024 auf 974.966 €, was die enorme Nachfrage unterstreicht.

Atmosphärischer historischer Weinkeller mit alten Fässern während einer Versteigerung

Entgegen der Annahme, diese Auktionen seien ein geschlossener Zirkel für Millionäre, kann prinzipiell jeder Weinliebhaber teilnehmen. Der Weg führt über einen der wenigen zugelassenen Kommissionäre (Weinhändler), die Gebote im Auftrag ihrer Kunden abgeben. Der Prozess erfordert Vorbereitung, ist aber transparent und eine faszinierende Möglichkeit, an Weine zu gelangen, die im normalen Handel niemals verfügbar sein werden. Es ist der ultimative Ausdruck des Sammlerwerts, den deutsche Weine heute wieder besitzen.

Ihr Aktionsplan zur Teilnahme an VDP-Versteigerungen

  1. Katalog studieren: Verschaffen Sie sich auf den Webseiten der regionalen VDP-Verbände (z.B. www.grosserring.de für die Mosel) einen Überblick im Versteigerungskatalog.
  2. Weine auswählen: Legen Sie fest, welche Weine und welche Flaschenzahl für Sie von Interesse sind.
  3. Maximalgebot festlegen: Definieren Sie Ihr Gebot in der Form „Für X € pro Flasche hätte ich gerne Y Flaschen“.
  4. Gebotspyramide erstellen: Geben Sie Gebote für verschiedene Preispunkte ab, um Ihre Chancen auf einen Zuschlag zu erhöhen (z.B. 6 Fl. für 100€, 3 Fl. für 120€).
  5. Kommissionär kontaktieren: Übermitteln Sie Ihr Gebot schriftlich an einen der offiziell zugelassenen Kommissionäre. Die Liste findet sich ebenfalls auf den VDP-Webseiten.
  6. Versteigerung verfolgen: Nehmen Sie am Versteigerungstag live vor Ort, per Telefon oder online via Livestream teil und fiebern Sie mit.

Warum besitzen Klöster wie Eberbach noch immer die besten Parzellen im Rheingau?

Die Grundlage für die heutige Spitzenqualität wurde bereits im Mittelalter gelegt. Es waren die Klöster, allen voran die Zisterzienser und Benediktiner, die den Weinbau in Deutschland systematisierten und zur Perfektion trieben. Mit Akribie und über Generationen gesammeltem Wissen identifizierten sie jene Parzellen, die durch ihre Bodenzusammensetzung, Hangneigung und Sonneneinstrahlung die besten Trauben hervorbrachten – die Geburtsstunde des Terroir-Gedankens in Deutschland. Weingüter wie Kloster Eberbach im Rheingau oder das Weingut Schloss Johannisberg, dessen Ursprünge auf ein Benediktinerkloster zurückgehen, sind lebende Zeugen dieser Epoche.

Diese klösterlichen Gründungen hatten nicht nur das Wissen, sondern auch die wirtschaftliche Macht und die langfristige Perspektive, um den Weinbau ohne kurzfristigen Profitdruck zu optimieren. Viele der heute als „Große Lagen“ klassifizierten Weinberge waren bereits vor Jahrhunderten im Besitz der Kirche. Die erste urkundliche Erwähnung der Rebsorte Riesling datiert auf den 13. März 1435 und geht auf eine Rechnung an einen Klostervogt zurück. Diese historische Kontinuität ist kein Zufall. Die Säkularisation unter Napoleon führte zwar zur Enteignung vieler kirchlicher Güter, doch die Lagen selbst und das Wissen um ihre Ausnahmestellung blieben erhalten und bilden bis heute das Fundament des deutschen Spitzenweinbaus.

Der Wert dieser historischen Lagen ist bis heute ungebrochen und spiegelt sich in atemberaubenden Preisen für historische Weine wider. Wie WeinArt Geisenheim berichtet, wurde der Rekordpreis bei einer Versteigerung auf Kloster Eberbach bereits 1987 erzielt:

ein deutsch-kanadischer Unternehmer ersteigerte eine Flasche 1735er Johannisberger Riesling für 53.000 DM.

– WeinArt Geisenheim, Historische Weinversteigerungen

Diese Fakten zeigen: Die heutige Qualität ist keine Neuerfindung, sondern eine Rückbesinnung auf ein Erbe, das von den Klöstern über Jahrhunderte kultiviert wurde.

Warum ein hohes Mostgewicht nicht automatisch einen besseren Wein bedeutet

Eines der hartnäckigsten Dogmen der alten deutschen Weinwelt war die Gleichung: hohes Mostgewicht = hohe Qualität. Dieser Glaube stammt aus einer Zeit, in der Deutschland am nördlichen Rand der Weinbauzone lag und die Winzer um jeden Grad Oechsle kämpfen mussten, um überhaupt reife Trauben zu ernten. Ein hohes Mostgewicht war ein seltener Erfolg, ein Zeichen für einen sonnenverwöhnten Jahrgang und die Garantie für einen Wein mit Substanz. Der Spitzenwinzer Klaus Peter Keller erinnert sich an die drastisch anderen Bedingungen früherer Zeiten: „In den 60er-Jahren hat mein Vater den Riesling so spät gelesen, da lag Schnee drauf.“

Im Zuge des Klimawandels hat sich diese Prämisse fundamental verkehrt. Heute ist es in den meisten deutschen Anbaugebieten kein Problem mehr, hohe Zuckerwerte in den Trauben zu erreichen. Die Herausforderung ist eine andere geworden: die physiologische Reife bei moderaten Alkoholgraden und erhaltener Säure zu erreichen. Ein Wein, dessen Trauben zu schnell zu viel Zucker gebildet haben, dem aber die aromatische und phenolische Reife fehlt, wirkt brandig, unausgewogen und „gemacht“. Er schmeckt süß oder alkoholisch, aber nicht nach seiner Herkunft.

Moderne Spitzenwinzer haben daher den alleinigen Fokus auf das Mostgewicht aufgegeben. Sie orientieren sich stattdessen am Geschmack der Traubenkerne, der Farbe der Schale und vor allem an der Säurestruktur. Das Ziel ist nicht mehr maximale Reife, sondern optimale Balance. Ein Großes Gewächs von heute beeindruckt nicht durch schiere Kraft, sondern durch Präzision, Mineralität und Eleganz – Qualitäten, die weit über den reinen Zuckergehalt hinausgehen. Die Abkehr vom Mostgewicht-Dogma ist somit einer der zentralen Schlüssel zum Verständnis des neuen deutschen Weinstils.

Als deutscher Riesling teurer war als Bordeaux: Ein Blick ins Jahr 1900

Das Imageproblem des 20. Jahrhunderts lässt leicht vergessen, dass deutsche Weine um 1900 zur absoluten Weltspitze gehörten und auf Weinkarten internationaler Grand Hotels und an den Höfen Europas teurer gehandelt wurden als die berühmtesten Châteaux aus Bordeaux. Insbesondere die feinfruchtigen Rieslinge von Mosel, Saar, Ruwer und aus dem Rheingau genossen einen legendären Ruf. Sie waren berühmt für ihre filigrane Leichtigkeit, ihre brillante Säure und ihr enormes Reifepotenzial.

Historische Dokumente und Weinkarten sind eindrucksvolle Zeugen dieser goldenen Ära. Sie belegen, dass beispielsweise 1913 eine Bernkasteler Auslese fast 200% mehr kostete als ein Chablis aus dem Burgund. Ein Top-Riesling wurde auf Augenhöhe mit einem Château Lafite oder Château d’Yquem gehandelt. Dieser Erfolg basierte auf denselben Prinzipien, die heute wieder gelten: einzigartige Steillagen, die Rebsorte Riesling und eine präzise, auf Finesse ausgerichtete Kellerarbeit.

Der jähe Absturz kam mit den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg schnitt Deutschland von seinen Exportmärkten ab und führte zu einem ersten, massiven Imageverlust. Während sich die Preise für Top-Bordeaux seitdem verhundertfachten, konnten sich die Preise für die besten deutschen Rieslinge kaum mehr als verdoppeln. Die anschließende Fokussierung auf Quantität und einfache, süße Weine in der Nachkriegszeit besiegelte den Niedergang. Die heutige Renaissance ist also keine Neuerfindung, sondern eine mühsam erarbeitete Rückkehr zu einem Qualitätsniveau, das vor über einem Jahrhundert bereits Standard war.

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Imagekrise der 80er war eine historische Anomalie; die Normalität für deutschen Spitzenwein war über Jahrhunderte Weltklasseniveau.
  • Die Wende ist ein tiefgreifender Strukturwandel hin zum Terroir-Gedanken, keine oberflächliche Modeerscheinung.
  • Moderne Qualität definiert sich durch Balance, Herkunft und Präzision, nicht mehr allein durch den Zuckergehalt (Mostgewicht) der Trauben.

Warum zahlen Sammler weltweit Hunderte Euro für deutsche Trockenbeerenauslesen?

Während der trockene Wein das Aushängeschild der deutschen Wein-Renaissance ist, manifestiert sich der Gipfel der Handwerkskunst und des Wertes in den Edelsüßweinen, allen voran der Trockenbeerenauslese (TBA). Hier wird das Vorurteil des „süßen deutschen Weins“ endgültig ad absurdum geführt. Eine TBA entsteht nur unter seltensten klimatischen Bedingungen, wenn der Schimmelpilz Botrytis cinerea (Edelfäule) die Trauben befällt. Er perforiert die Beerenhaut, wodurch das Wasser verdunstet und Zucker, Säure und Aromen in extremer Konzentration zurückbleiben.

Die Lese dieser rosinenartig geschrumpften Beeren ist reine Handarbeit; oft wird jede einzelne Beere von Hand selektiert. Der Ertrag ist verschwindend gering – manchmal braucht ein ganzer Weinberg für eine Handvoll Flaschen. Das Ergebnis ist ein Elixier mit immenser Aromenvielfalt, einer unglaublichen Süße, die aber durch eine brillante, rassige Säure perfekt balanciert wird. Diese Weine sind quasi unsterblich und können über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, reifen. Diese Kombination aus extremer Seltenheit, höchstem handwerklichen Aufwand und schier unendlichem Reifepotenzial macht sie zu begehrten Sammlerobjekten. Bei der VDP-Versteigerung 2015 wurde ein absoluter Weltrekord für einen jungen deutschen Wein erzielt, als eine 0,75l Flasche 2003er Scharzhofberger TBA von Egon Müller für 12.000 Euro den Besitzer wechselte.

Die folgende Tabelle zeigt einige der Höchstpreise, die bei jüngeren Versteigerungen für deutsche Edelsüßweine erzielt wurden und belegt eindrucksvoll den Status dieser flüssigen Goldes.

Höchstpreise deutscher Trockenbeerenauslesen bei Versteigerungen
Jahrgang/Wein Weingut Preis Flaschengröße
2023 Scharzhofberger Auslese Goldkapsel Egon Müller 20.505€ 6,0l
2015 Scharzhofberger Beerenauslese Egon Müller 16.000€ 1,5l
2003 Scharzhofberger TBA Egon Müller 12.000€ 0,75l
2005 Saarburger Rausch TBA Zilliken 2.910€ 1,5l

Die Reise des deutschen Weins von der Weltspitze ins Tal der Liebfraumilch und zurück ist eine der faszinierendsten Comeback-Geschichten der Weinwelt. Sie zeigt, dass der Mut zur Korrektur historischer Fehler und die Rückbesinnung auf die ureigenen Stärken – einzigartige Lagen, die Rebsorte Riesling und Präzision – der Schlüssel zu nachhaltigem Erfolg sind. Geben Sie dem modernen deutschen Wein eine Chance, Ihr altes Urteil zu revidieren. Beginnen Sie Ihre Entdeckungsreise am besten mit einem trockenen Großen Gewächs eines renommierten VDP-Weinguts.

Geschrieben von Friedrich von Plettenberg, Zertifizierter Weinhändler und Sachverständiger für Weinbewertung und -investition. 25 Jahre Erfahrung im Handel mit deutschen Spitzenweinen und Raritäten.